„Pinkeln in Abfahrtshocke“ – Eindrücke vom Camino Primitivo
„Wie ist das bei euch mit Schmerzen?“, fragt Andrea, ein junger Italiener, am Abend vor der Königsetappe über die Hospitalesroute – 25 km über die galicischen Berge in unwirtlichster Gegend.
Und ich sage: „Was soll schon sein, wir haben alle Schmerzen. Wir reden nicht darüber, es ist Teil des Deals.“ Und alle lächeln. Jeder weiß, was gemeint ist. Ein Beispiel? Meine Beine sind so steif, dass mehr als 90 Grad beim In-die-Hocke-Gehen nicht drin sind. Doch wie gesagt – es ist part of the deal. Es verliert an Bedeutung.
Laufen, essen, schlafen, repeat. Das ist das Mantra der Pilger auf dem Camino. Für mich auf insgesamt 304 Kilometern von Oviedo nach Santiago über den Camino Primitivo – dem Weg über die Berge, der am wenigsten begangen wird und entsprechend am einsamsten und auch am wildesten ist. Deswegen habe ich ihn gewählt.
Die Tage verschwimmen. Morgens verlässt du die Herberge, noch im Halbdunkel, und weißt: Heute sind es wieder 20, 25, manchmal auch 30 Kilometer.
Am dritten Tag schaltet der Kopf aus. Du gehst mechanisch und hörst nur noch das Klackern deiner Stöcke auf dem Asphalt. Mal scheint die Sonne, mal hüllt dich Nebel ein, mal prasselt der Regen stundenlang herab. Es gibt nur dich, deinen Rucksack – und den Weg. Und ein paar Mitwanderer wie Andrea.
Meine größte Herausforderung war nicht das Gehen oder die Schmerzen, sondern die Eintönigkeit. Der Camino ist kein Abenteuer. Alles ist perfekt ausgeschildert und organisiert. Es gibt Automaten für Wasser und Snacks am Straßenrand, also bleibt wirklich gar nichts mehr, um das du dich selbst kümmern musst.
Du musst einfach nur gehen. Tag für Tag diese Eintönigkeit ertragen. Viel auf asphaltierten Nebenstraßen, durch dünn besiedelte oder gleich verfallene Dörfer, nachts schäfst du in Stockbetten mit müffelnden Socken – das alles lässt dich abstumpfen und leer werden. Es gibt wirklich nichts, was dich geistig fordert oder ablenkt.
Dann kommt das Highlight: Die Hospitales-Route, 1.200 Meter hoch, zeigt endlich Unwegsamkeiten, atemberaubende Natur, die Einsamkeit der Berge und die Härte der Elemente. Hier oben gibt es keine Automaten, du musst alles selbst tragen, hast kaum Handyempfang, bist also wirklich auf dich selbst gestellt. Der Wind weht dich fast um, es ist kalt, der Regen peitscht dir von der Seite ins Gesicht und die Sicht beträgt kaum zwanzig Meter.
Doch für mich, für uns alle, ist genau dieser Tag endlic
h der Moment, wo wir uns wie echte Pilger fühlen. So war es vor Jahrhunderten. Raue Natur, keine Automaten, kein Entkommen, tiefe Demut, Ehrfurcht, Vertrauen. Das läutert und gibt ein unglaubliches Gefühl der Stärke. Wer die Hospitales im Regen schafft, der weiß tief in sich drinnen wieder, wer er ist und was er kann.
Dieses Hochgefühl der Hospitalesüberquerung wird noch getoppt von sieben Italienern, die uns abends mit Pasta „à la Mamma“ bekochen. Diese sieben kennen sich nicht, aber sie tun sich zusammen, um uns andere zwanzig Personen zu verwöhnen. Eine echte Camino-Aktion, so liebenswert und verbindend – und einer der Gründe, warum Menschen den Camino so lieben.
Oder dieser Franzose. Er ist in Genf gestartet, über 2.000 Kilometer in vier Monaten liegen hinter ihm. Nie habe ich einen schweigsameren und ausgeglicheneren Menschen getroffen. Was sein Grund war, sich auf den Weg zu machen, hat er mir nicht verraten. Doch in Santiago fällt er auf die Knie. Ich kann ihn verstehen.
Und dann bin auch ich auf dem Platz vor der Kathedrale. Es ist still, kein Tamtam, keine Musik. Finde ich wunderschön, denn so kann jeder sein Ankommen nach seiner Fasson feiern. Hunderte von müden und verschwitzten Pilgerinnen und Pilgern aus aller Herren Länder kommen dort jeden Tag an; von morgens bis abends ist Betrieb auf dem Platz. Manche weinen, andere singen, viele liegen sich in den Armen, beten, ein Pärchen küsst sich innig. Man grüßt sich lächelnd, ohne sich zu kennen. Was uns alle verbindet, ist dieses Wissen: Wir haben uns gestellt und sind hier angekommen. Innen wie außen. Dieser Platz gehört uns. Wir kommen alle von irgendwoher, halten hier inne und gehen danach wieder unserer Wege. Und jeder hat Hunderte von Geschichten zu erzählen, wenn er nach Hause kommt.
Ich persönlich hatte drei unterschiedliche Empfindungen: Auf den endlosen Etappen über Asphalt und durch die Dörfer spürte ich: Wir vermitteln Frieden. Wer hier läuft, hat gute Absichten. Das war einfach nur schön. Ein schönes Gefühl. Auf der Hospitalesroute habe ich mich selbst wiedergefunden. Und auf dem Platz vor der Kathedrale hatte ich das Gefühl, wir haben etwas, was uns für verbindet. Für immer.
PS: Hier kommt noch ein DANKE VIDEO für alle, die mich unterstützt haben! Ihr wart großartig!
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